Schwindel + Glück


Dr. Franz Littmann



Als Kind, im Fieber, im Traum, im Rausch lernt man andere Zustände kennen. Öffnet sich eine neue Welt. Oder unterwegs mit dem Hochgebirgsführer: „Der Körper verwandelt sich dort, Brot und Tee haben nicht denselben Geschmack; der Raum, in den die Seilschaft demütig und ekstatisch, voller Schmerz und glücklich eindringt, bis sie auf dem Gipfel anlangt, plötzlich getröstet, umherschaut, gleicht eher dem Planeten Erde als einem Stückchen bebauten Landes. Es verändert sich alles: Sehen und Fühlen, Atem und Schweiß, die Stille, die Nähe der Luft und des Himmels, das Leben und die Nähe des Todes, das Lächeln der anderen und der Flug der Gedanken.“ 1)


Den Betrachter zu „erschüttern“, ihm den Übergang vom Normalzustand in den „anderen Zustand“ (Musil) zu ermöglichen, ist die Absicht des Karlsruher Malers Heinz Pelz. Seine Malerei, die nicht sinn-voll ist, sondern den Sinn in Frage stellt, riskiert einiges. Wer, wie er über die Verhältnisse nachdenkt, weiß, daß Kunst, die Einbruchstellen für das Andere offenhalten will, zu „einem gnadenlosen Kampf um die absolute Sinnlosigkeit“ 2) gezwungen wird. Die Fähigkeit und die Bereitschaft zum Übergang vom Wachen zum Träumen ist dabei, restlos zu verschwinden. Wer sich im Hochgebirge stählt und panzert, diesen als Fitneß-Raum erlebt, wird unempfindlich für profane Offenbarungen. Auch eine Malerei, die versucht, die Struktur der Existenz zu verwandeln, wird gemäß dieser Logik mit dem Fernsehbildschirm verwechselt.


Gibt es zuviel Komplexität, Mannigfaltigkeit und Unordnung, werden die Fenster verriegelt. Nur „Kanalisiertes“ darf auf dem Bildschirm erscheinen. Viele Künstler folgen der Aufforderung zum Happening, bei dem das Immergleiche und leicht Wiedererkennbare dauernd wiederholt wird. Mal in Zeitlupe, mal im Zeitraffer. Erwartet wird jener Effekt, der im Zugfenster, in der Windschutzscheibe des Autos oder auf dem Fernsehbildschirm zu sehen ist: Die Bilder sind dadurch präsent, daß sie vorbeifliegen. 3)


Bei Heinz Pelz hört das Zeitlose jedoch nicht auf. Er öffnet die Fenster der verwüsteten Räume - sie sind abstrakt, homogen, mit monströsen Bildern abgeschottet - und bringt mit seiner Malerei Vorhandenes und Nichtvorhandenes, Bestimmtes und Unbestimmtes, Wirkliches und Mögliches zur Erscheinung. Sie ist vielfach verschlüsselt und widerspricht dem Kanalisierten und Festgelegten, indem sie auf einer radikalen Sprachlosigkeit insistiert. Anstatt des Zwangs zur leeren Wiederholung probiert es Heinz Pelz mit Gesten des wiederholten Verlierens, d.h. mit „wirklicher“ Wiederholung einer urbildhaften, ursprünglichen Realität:


„Man weiß z.B. seit langem, daß Kinder während der ersten neun Lebensmonate nur Farbiges und überhaupt Farbloses unterscheiden; später artikulieren sich Farbflächen in „warme“ und „kalte“ Tönungen, und endlich ergeben sich erst die besonderen Farben. Die erste Wahrnehmung der Farben im eigentlichen Sinne gründet also in einem Wandel der Struktur des Bewusstseins. Damit handelt es sich um eine aktive, schöpferische Leistung, die das Gegebene ursprünglich gestalthaft artikuliert.“4)


Heinz Pelz wieder-holt diese „ursprüngliche“ Wahrnehmungsstruktur. Er vergegenwärtigt einen Zustand, der nicht im Besitz der vollen Bestimmtheit und Bedeutung des Wahrgenommenen ist. Unbestimmtheit und Bestimmtheit halten sich die Waage. „Das Andere kommt über die Wahrnehmung oder gar nicht.“ 5) Deshalb verzichtet Heinz Pelz radikal auf einen Sinn, den es zu entdecken gibt. Die Schönheit seiner Bilder bleibt stumm, blind und taub. Sie fordert zur Versenkung auf. Genau wie das Rechteck des modernen „Fetischkastens“ (McLuhan). Aber während die Seh-Maschine den Betrachter in die „Nacht einer freiwilligen Erblindung stürzt“ 6), verführt die Malerei von Heinz Pelz zur Gratwanderung. Ob sich - wie im Hochgebirge - etwas verändert, ob man Glück hat, ob es einem schwindlig wird, ist von der Fähigkeit zur „ursprünglichen“ Wahrnehmung abhängig. Vielleicht hilft folgende, auf Eugen Rosenstock-Huessy 7) zurückgehende Vorschrift: Wie ein „Verrückter“ ins Bordell gehen, d.h. anstatt den Trieb planmäßig zu befriedigen und den Akt so aufmerksam wie möglich auszuführen, sich wie ein verliebter Bräutigam benehmen:

Nicht absichtlich, sondern unwillkürlich. Selbstvergessen. Sich selbst fremd!


Literatur:

1) Michel Serres, Die Legende der Engel, Insel-Verlag, Frankfurt/M., 1995, S.162

2) Dietmar Kamper, Schwarze Sonne. Das Realphantasma und die Phantome der Wirklichkeit, in: Martin Sturm, Georg Christoph Tholen, Reiner Zendron (Hg.), Phantasma und Phantome. Gestalten des Unheimlichen in Kunst und Psychoanalyse, Residenz-Verlag, Linz, 1995, S.106

3) Paul Virilio und Sylvère Lotringer, Der reine Krieg, Merve-Verlag, Berlin, 1984, S.86

4) Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, Walter de Gruyter+Co, Berlin, 1966, S.51

5) Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart, Zur Theorie der Phantasie, Wilhelm Fink Verlag, München, 1995, S.21

6) Virilio, a.a.O., S.86

7) Eugen Rosenstock-Huessy, Heilkraft und Wahrheit, Brendow-Verlag, Moers, 1990, S.165



© 2012 Dr. Franz Littmann

«